Libellenflügel
Um individuelle Zählungen zu ermöglichen, werden Tiere gewöhnlich markiert (z. B. Vogelberingung). Oft eignen sich auch schon natürliche individuelle Merkmale zur Erkennung (Fleckung bei Giraffen, Hausrindern, auch bei Lurchen usw.). Bei den Libellen und manch anderen Insekten springt uns das filigrane Flügeladernetz ins Auge. Kann es eine ebenso strenge individuelle Bedeutung haben wie unsere Fingerabdrücke?
Versuchsweise wurden im Jahr 2004 digitale Flügelmuster-Fotos von der Gestreiften Quelljungfer (Cordulegaster bidentata) an einem Vorkommensort aufgenommen und so die Zahl der dort fliegenden Tiere bestimmt. Über die Gültigkeit des Fingerabdruck-Prinzips beim Libellenflügel besteht derzeit allerdings kein Experten-Konsens. Derartige Individuenerhebungen bleiben daher wissenschaftlich unhaltbar, solange nicht der Einwand entkräftet ist, verschiedene Individuen könnten gleiche Flügelmuster aufweisen.
Dass ein Muster nie einem anderen gleichen kann, wird für den Libellenflügel freilich genauso wenig beweisbar sein wie für unsere Fingerkuppen. Wohl könnte aber wenigstens die Unwahrscheinlichkeit beziffert werden. Dieses Motiv führte 2005 zu einem ersten Rechenmodell (Andreas Pix). Um es auch über den begrenzten privaten Rahmen hinaus mit statistischen Daten größeren Umfangs und weiterer Arten füttern zu können, wird das Projekt 2008/09 nun teils von der BSG mitgetragen.
Hier ist nicht der Raum für eine ausführliche Darstellung des Modells, was als allzu trockene Angelegenheit sicher auch wenig im Interesse unserer Website-Besucher wäre. Dennoch wollen wir wenigstens den strategischen Ansatz erläutern (Modell-Skizze). Im Sinne einer lockereren Darstellung soll hier mehr Raum den „Hauptdarstellern“ (die Quelljungfer), der Arbeitsweise (Erfassung) und der Illustration gegeben sein, wobei etliche der hier eingestreuten Bilder auch in größerer Auflösung herunter geladen werden können (Quellen). Wer dennoch Interesse an einigen Hintergründen und tiefer gehenden Gedanken hat, kann sich in die Rubrik Reflexionen klicken.
Da die meisten Libellen nicht gerade darauf warten, sich ablichten zu lassen, erst recht nicht ihr Flügelmuster, liegt der Wert dieses Projekts mehr im wissenschaftlich Grundsätzlichen als in der Praxis (derzeit jedenfalls) – Ausnahmen eingeräumt. Eine Ausnahme aufgrund besonderer Ökologie kann z. B. die Gestreifte Quelljungfer (Cordulegaster bidentata) bilden. Sie war auch das initiierende Moment dieses Projekts.
Die Art ist ein europäischer Endemit, ihre Gesamtverbreitung ist etwa deckungsgleich mit der des Berg-Buchenwaldes. Sie ist die seltenere der beiden heimischen Quelljungfer-Arten, die als strenge Fließwasserlibellen nur kleine und kleinste Bäche besiedeln (im Landkreis Göttingen nur im Bram- und rar im Kaufunger Wald). Sie lebt in gefällereichen Bergbachsystemen, fehlt daher in Norddeutschland, findet aber in den Weserhängen beidseitig des obersten Stromabschnitts optimalen Lebensraum. Zumeist sehr vereinzelt, leben die Larven in den kleinsten Quellrinnsalen. Ein typisches Entwicklungs- und Flughabitat dieser Schattenwelt ist hier im Bild gezeigt, wobei das spärlich rinnende Wasser nur zu erahnen ist. Es sind so genannte Patrouille-Männchen, die hier unablässig wenige Zentimeter über Grund (Bild) langsam suchend das Rinnsal aufwärts fliegen, um von einem oberen Umkehrpunkt dann in schnellem Bogen nach unten zurückzukehren. Sie sitzend anzutreffen, ist in diesen Schattenhabitaten quasi ausgeschlossen.
An weniger klar strukturierten oder auch an besonnteren Habitaten lockern sie diese Flugregel. Ein wieder anderes Verhalten zeigen sie bei der Jagd, die oft an ausgesucht sonnigen Hängen längs der Waldwege stattfindet. Sofern es nicht zu heiß ist, setzen sie sich dort häufig in der Sonne ab, sitzen oft länger, als sie fliegen, und lassen sich dann äußerst „bereitwillig“ fotografieren, leichter als fast alle anderen Großlibellen. Solche Jagdhabitate sind allerdings extrem dünn gestreut.
Weibchen zeigen sich nur selten meistens bei der Eiablage (Quelljungfern versenken mit ihrem langen Legebohrer Ei um Ei in das Quellsediment, auf und ab schwirrend ähnlich einer Nähmaschinennadel). Nach der Eiablage verschwindet das Weibchen meist sofort vom Ort, wenn es nicht schon mitten aus seiner Tätigkeit heraus von einem Patrouille-Männchen verschleppt wurde.
Cordulegaster bidentata lebt somit sehr versteckt an Orten, wo keine anderen Libellen vorkommen und wo man sie gemeinhin auch kaum sucht. Sie ist unter den Libellen eine der strengsten Spezialistinnen, die ihren Speziallebensraum nie verlässt. Sie wurde und wird daher oft übersehen. Die besondere Lebensweise mündet auch in einer sehr komplexen Populationsstruktur: In den weit verstreuten kleinen Entwicklungshabitaten leben meist nur sehr wenige Larven, an manchen dieser abgelegenen Orte sind fliegende Männchen womöglich nie einmal vorbeigekommen, dagegen scheinen Weibchen weit umherzustreifen. Untersuchungen zur individuellen Verteilung im Raum sind daher gerade bei dieser Art besonders von Belang, somit gerade auch ihre individuelle Unterscheidung, was letztlich der Ur-Anlass dieser Studie war.
Kann das Flügel-Feinadernetz einer Libelle jemals dem einer zweiten gleichen? – Das ist hier die Frage. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?
Uns selbst können wir die Antwort vielleicht intuitiv geben. Dagegen erfordert eine wissenschaftliche Akzeptanz Objektiveres. Daher wurde 2005 ein erstes statistisches Modell entwickelt. Sein Denkweg wurde im März 2008 auf einer Expertentagung vorgestellt und als Poster illustriert (Bezugsadresse für JPEG-Poster unter Quellen). Hier ein kurzer Kommentar in Textform:
Betrachten wir z. B. das so genannte Analdreieck im Hinterflügel der Cordulegaster bidentata-Männchen (1. Bild). Es ist meist in drei Zellen unterteilt. In einer Foto-Stichprobe von 60 Tieren war es etwa in der Hälfte der Fälle dreizellig, ansonsten teilte es sich in 2, 4, 5 und einmal auch 6 Zellen. Der Flügelsektor „Analdreieck“ tritt somit in mindestens fünf verschiedenen Formen auf, wobei die Form im rechten Flügel von der im linken verschieden sein kann (2. Bild). Ganz freie Kombinierbarkeit der Formen vorausgesetzt, hätten wir damit bereits 5² = 25 Möglichkeiten individueller Musterkombination rechts mit links.
Wechseln wir nun zu einer anderen Libellenspezies, von der leichter größere Stichproben erhalten werden können: der Kleinen Moosjungfer (Leucorrhinia dubia, 3. Bild: Männchen). Eine Stichprobe aus 2005 umfasst 41 Weibchen. Wir betrachten hier nicht nur einen Flügelsektor, sondern greifen exemplarisch gleich vier heraus, und zwar aus dem rechten Flügelpaar (4. Bild). Der erste dieser Sektoren teilt sich bei den 41 Weibchen in minimal 7 bis maximal 10 Zellen, tritt generell also in mindestens 4 Formen auf. Der zweite tritt ebenfalls in 4 Formen auf, der dritte, ein wesentlich komplexerer Sektor, zeigt 12, der vierte 13 Formen. Das gehabte Kombinationsspiel führt somit auf 4 ∙ 4 ∙ 12 ∙ 13 = 2496 Kombinationsmöglichkeiten. Da für das linke Flügelpaar ein ähnliches Ergebnis erwartbar ist, nehmen wir kurzerhand 2496 zum Quadrat und erhalten so ein Gesamtspektrum von mehr als 6 Millionen Kombinationsmustern. Nun decken diese acht exemplarischen Sektoren erst einen kleineren Bruchteil der totalen Flügelfläche ab, während die größten Flächenanteile noch unbeachtet blieben. Nichts spricht dafür, dass deren Zellenzahlen-Variabilität geringer sein sollte. Die Zahl 6 Mio. wird daher ein „Klacks“ sein gegen die fast unvorstellbare Zahl von Mustermöglichkeiten, die sich kombinatorisch aus der Flügel-Totalfläche ergibt. Nennen wir sie X.
Bei Leucorrhinia dubia-Weibchen kann es demnach X verschiedene Flügelmuster geben. Wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, bei einem Tier ein bestimmtes Muster anzutreffen? Spontan denken wir vielleicht an 1/X. Das wäre sicher zutreffend, wenn alle Muster gleich häufig wären. Damit dürfen wir jedoch aus zweierlei Gründen nicht rechnen: Erstens wissen wir sicher, dass schon die Formenverteilungen der einzelnen Sektoren Häufungsverteilungen sind (Beispiel erste Stichprobe: starke Häufung bei der Form „3-zellig“). Gesamtmuster-Kombinationen mit dieser Form werden also häufiger sein als solche mit einer selteneren Form dieses Sektors. Auch die Verteilung der Gesamtmuster wird demnach eine Häufungsverteilung sein.
Zweitens müssen wir damit rechnen, dass das Auftreten bestimmter Sektorformen mit dem Auftreten bestimmter Formen anderer zur Kombinationsrechnung verwendeter Sektoren korreliert sein könnte, sich die glatte Multiplikation also verbietet. So könnte z. B. eine Tendenz zu beidseitiger (lateraler) Symmetrie bestehen.
Das ausführliche Rechenmodell trägt diesen beiden Einflussgrößen Rechnung, indem es die Häufungen mittels Diversitätsanalyse behandelt und Korrelationen mittels Koeffizientberechnung abschätzt. Es kommt damit zu dem Schluss, dass kein individuelles Flügelmuster eine größere Wahrscheinlichkeit als 10⁻³⁰ hat, auch nicht das denkbar häufigste. Die Aussage gilt für die Weibchen von L. dubia auf Basis einer Stichprobe n = 41. Die aktuelle Stichprobengröße für L. dubia liegt inzwischen bei 400 Tieren (Männchen + Weibchen).
Genau genommen gehört das auf der Vorseite skizzierte Modell nicht zum BSG-Projekt, es liegt länger zurück. Durch Trägerschaft der BSG wurde aber erst eine statistische Datenerfassung in wirklich attraktivem Rahmen möglich. Diese besteht wesentlich darin, Flügelmuster ausgewählter Libellenarten auswertbar abzulichten. Die Digitalfotografie eröffnet dabei nicht nur ob ihrer größeren Schärfentiefe klare Vorteile.
Wie schon angedeutet, können größere Serien von Flügelfotos bei den hoch mobilen Libellen höchstens ausnahmsweise gewonnen werden. Eine recht günstige Situation ergibt sich kurz nach der letzten Häutung, wenn sie vom Wasser zum Lebensraum Luft wechseln. Hat die frische Imago ihre Flügel entfaltet, müssen diese zunächst aushärten und werden meist noch geschlossen gehalten (1. Bild, rechts). Öffnet die Libelle die Flügel, so folgt gewöhnlich schon kurz darauf der Abflug. Der einzig günstige Foto-Moment ist kaum zu treffen. - Anders bei bestimmten Wetterbedingungen, z. B. an regnerisch-trüben oder manchmal auch sehr kalten Tagen. Dann können sie teils auch den ganzen Tag noch mit aufgeklappten Flügeln an ihrem Schlupfhalm sitzend verbringen (1. Bild, links). Die Aufnahme sollte natürlich vor einem möglichst monotonen Hintergrund zu Stande kommen (2. Bild). Kehrseite der Medaille ist die Gefahr, dass es tatsächlich merklich zu regnen beginnt und die dann tropfentragenden Flügel kaum auswertbar sind. Noch abträglicher ist Wind, da man nicht fokussieren kann, wenn sich der Halm bewegt oder gar die Flügel flattern. Wird es darüber hinaus den Tieren selbst zu unangenehm, klappen diese auch wieder zu. Dann drückt die Entscheidung zwischen Ausharren oder Abbrechen, vor allem an entfernteren Exkursionszielen. Die Problematik liegt demnach weniger in der technischen Fotografie als der gelungenen Auswahl der Exkursionstermine, die aller Erfahrung zum Trotz wohl ein Glücksspiel bleibt.
Die größten Chancen bietet nichtsdestotrotz die Suche nach Gewässern, an denen es möglichst große Populationen solcher Arten gibt, die konzertiert schlüpfen. Diese Vorgaben kommen vor allem bei frühsaisonalen Moorlibellen zusammen, wie z. B. der Kleinen Moosjungfer (Leucorrhinia dubia). Sie hat erwartungsgemäß auch die umfangreichsten statistischen Serien geliefert. Die größten ihrer erreichbaren Vorkommen liegen allerdings recht weit im Solling, so dass sich die Unvorhersehbarkeit des kleinen günstigen Faktorenfensters gravierend auf den Aufwand-Wirkungsgrad auswirkt (2009 vor allem massiv durch unvorhersehbaren Wind bedingt, den Wettervorhersagen fast stets verschweigen).
Neben der Gestreiften Quelljungfer und der Kleinen Moosjungfer wurden größere und kleinere Musterserien auch für folgende Arten gewonnen:
Gemeine Smaragdlibelle (Cordulia aenea, 3. Bild)
Vierfleck (Libellula quadrimaculata, 4. Bild)
Schwarze Heidelibelle (Sympetrum danae, 5. Bild)
sowie versuchsweise für Kleinlibellen:
Gemeine Binsenjungfer (Lestes sponsa, 6. Bild)
Ein Beweis für etwas so Banales wie das Flügelmuster als Fingerabdruck wirkt irgendwie seit 100 Jahren überfällig – oder aber eben überflüssig. Ein Beweis oder wenigstens eine Plausibilisierung waren selbstverständlich solange unnötig, wie an keine geringste Anwendung zu denken war. Das heißt allerdings nicht, dass aktuell wesentlich größere konkrete Anwendungen sichtbar wären als bestimmte Fälle.
Das Analysieren von Flügelmustern in drei- oder mehrstelliger Zahl wäre ohnehin kaum praktikabel – es sei denn mit den Möglichkeiten moderner EDV. Eine spezielle Software wurde bereits 2005 für die Auswertung der ersten erfassten Probeserien erstellt. Da diese jedoch keine Option für einen expliziten individuellen Vergleich von Mustern enthält und auch nur für den internen Gebrauch konzipiert war, wurde in die Projektziele auch ein anwendergerechter Neuzuschnitt des Programms integriert, so dass es Interessierte auch für selbst erfasste Felddaten nutzen können.
Dieses erscheint umso sinnvoller, wie der Fingerabdruck-These immerhin nicht wenige Stimmen auch skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen, meist mit der Begründung, dass etliche Strukturen des Flügelmusters ja klassische und zentrale Bedeutung in der Systematik und Bestimmung haben. Diese Bedeutung wird hier aber nicht im geringsten berührt oder gar infragegestellt. Die für die Systematik wichtigen Hauptstrukturen sind Konstanten für Arten, für Gattungen oder auch für höhere Taxa. Sie sind von der hier diskutierten Feinstruktur-Variabilität nicht betroffen.
Das Analysemodell arbeitet ausschließlich mit Anzahlen von Flügelzellen, es beachtet nicht deren Geometrie (Bild), ja nicht einmal ihre Topologie. Es beraubt sich damit bewusst selbst der Chance, noch weit höhere vorhandene potentielle Unterscheidungsinformation zu nutzen. Die Gründe hierfür sind keine inneren, sondern ausschließlich pragmatische wie Handhabbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Darstellbarkeit.
Gemäß in der modellierenden Praxis verbreiteter Handhabe verwendet auch das vorliegende Konzept Idealisierungen. Seine Ergebniszahl ist daher nicht wörtlich zu nehmen, sondern steht für eine Tendenz. Parallel dazu besteht allerdings die Idee einer zweiten Version, die Idealisierungen und die damit verbundene Abstraktion zurücknimmt, so dass die Ergebniszahl prinzipiell exakt ist und ihre Toleranz nur vom Umfang der statistischen Stichprobe abhängt. Dieses Modell ist allerdings noch zu wenig durchschaut, um unterbreitet werden zu können. Es scheint im Vergleich zum ersten Modell Stichproben quadratisch höheren Umfangs zu verlangen – ein klarer Nachteil, der allerdings glatt überwogen würde.
Modellansatz-Illustration, Poster Potsdam 2008, A-Teil (jpg)
Modellansatz-Illustration, Poster Potsdam 2008, B-Teil (jpg)
Cordulegaster bidentata M, sitzend (jpg)
Cordulegaster bidentata W, sitzend (jpg)
Cordulegaster bidentata M, Schattenpatrouille (jpg)
Cordulegaster bidentata M Flügel (jpg)
Cordulegaster bidentata Eiablage (mov & avi)
Cordulegaster bidentata: Patrouille-Habitat Schatten (jpg)
Cordulegaster bidentata: Patrouille-Habitat Sonne (jpg)
Cordulegaster bidentata: Jagd-Habitat (jpg)
Leucorrhinia dubia M (jpg)
Leucorrhinia dubia W (jpg)
Cordulia aenea M (jpg)
Cordulia aenea W (jpg)
Pterolyt09/Pteroass für Windows (exe)
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